Biografie

Zum Raum wird hier die Zeit

Enno-Ilka Uhde – Künstler des verweilenden Augenblicks

Ein biografisches Essay

Eine Begegnung mit Enno-Ilka Uhde mag zu denen gehören, die man nicht so schnell vergisst – sei es wegen der Irritation oder aber der Faszination, die sie auszulösen vermag. Gerne empfängt er seine Gäste im Atelierbüro mit einer inszenierten Fahrt seiner Spielzeugeisenbahn, die auf seinem riesigen Arbeitstisch bei dramaturgisch wohl eingesetzter Musik ihre Runden dreht. Oder er überrascht mit kleinen Taschentricks, bei denen er Bleistifte oder Geld aus Mund und Ohren zaubert und lachend wieder verschwinden lässt. Ebenso unerwartet brüskiert werden könnte das Gegenüber durch einen kleinen verbalen Seitenhieb, bei dem sich der eventuelle Zeuge gerne unsichtbar machen würde, in der Art „Sie in Ihrem grauen Anzug…“. Das sitzt immer. Uhde meint das überraschend liebevoll, denn schon nützt er diese offensive Begrüßung, um den Bogen zu seinem philosophischen Denken zu schlagen, das für seine Arbeiten unabdingbar ist. Er zitiert gerne „die Riesen, auf deren Schultern er sich stellt, um weiter sehen zu können“. Gelesen, gehört, gesehen und nachgedacht hat er viel in seinem sechseinhalb Lebensjahrzehnten.
Musikwissenschaft, Operngesang, kritische Theorie, Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie waren die Kernthemen, mit denen er sich während seines Studiums an der Goethe-Universität in Frankfurt und danach beständig beschäftigt hat. Marcuse, Habermas, Adorno, Horkheimer, Gadamer. Persönliche Begegnungen mit Jean Baudrillard, Jacques Derrida, Claude Lanzmann, mit namhaften Musikern und politischen Persönlichkeiten prägten sein Leben. Und doch erklärt er seinem Gegenüber immer wieder offensiv, dass er auch nicht wisse, wie die richtige Lösung aussehe, schlägt aber sogleich mit einem Kunstgriff den Bogen zu den Meistersingern von Nürnberg. Vom Wettbewerbskandidaten Walther von Stolzing nach den zu befolgenden Regeln der Kunst befragt, antwortet der Meistersänger Hans Sachs mit einer Aufforderung zum Regelbruch gegenüber einer erstarrten Zunft durch eine neue Kunstauffassung: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann“. Unermüdlich folgt Uhde in seinem Werken dieser Devise und seinem leitmotivischen Prinzip „Kinder, schafft Neues!“
Zunächst schlug Uhde mit seiner beruflichen Laufbahn den sogenannten Gang durch die Institutionen ein, verpflichtete sich zum Militärdienst und wurde Major der Reserve und später Studienrat – von Schülern wie Kollegen in Wiesbaden und Umgebung unvergessen. Er hält sich an Richard Wagner, zitiert – gerne auch singend – Textstellen aus Opern, wie den Dialog zwischen Parsifal und Gurnemanz: „Ich schreite schon, doch wähn’ ich mich schon weit. – Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Nennt damit eines der Themen, das ihn durch und durch in seinen inszenatorischen Arbeiten beschäftigt: die Verräumlichung der Zeit durch den gestalteten Raum in der sich ausdehnende, gekrümmten  Zeit – die Raumzeit.

Die Faszination des Fünfjährigen, der er einst war, beschreibt er mit dem Moment, in dem sich im Staatstheater Wiesbaden der Vorhang öffnete und ihm den Mythos der Oper in Klang und Bild offenbarte. Enno Uhde erzählt gerne von dieser Zeit der märchenhaften Verwandlung auf der Bühne, seinen unzähligen Theater- und Opernbesuchen als Kind und Jugendlicher in der Staatsloge am Wiesbadener Theater, zu der er dank familiärer Kontakt über viele Jahre uneingeschränkt Zugang hatte. Dazu kamen seine Mitwirkung im Wiesbadener Knabenchor und Operngesangsausbildung am Konservatorium. Er selbst ist eine wahre Enzyklopädie der Musik und Musikgeschichte, weiß um die großen und kleineren Stimmen der Welt und was sie ausmacht, weiß um Musikrichtungen und Komponisten, egal ob Klassik, Moderne oder Filmmusik. Heute fasst er dies alles zusammen im Begriff des Raumklangs, denn Raum klinge immer – egal ob es das Brummen des Kühlschranks, Autogeräusche oder das Scharren der Füße unter dem Tisch sei – und mit ihm offenbarten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse. In gleicher Weise klängen für ihn auch Bilder, was er gerne mit dem Beispiel des World Press Foto von Eddie Adams verdeutlicht, auf dem ein südvietnamesischer Polizeichef ein Vietcong-Mitglied 1968 auf offener Straße in Saigon erschießt. Durch den Fokus der Momentaufnahme wird das Auseinanderklaffen von Legitimität und Legalität offenbar und gibt als Kunstwerk einen Blick auf menschliche Wahrheit frei.

Für Enno Uhde besteht das große Geschick einer Inszenierung darin, Raum, Zeit und Klang in einer Bedeutungsebene zusammenzubringen. Er rechnet nicht mit den Großen ab, sondern ehrt sie, indem er sie gerne als Werke zitiert und mit dem aktuellen Kontext in Verbindung bringt. Mit seinen eigenen Werken möchte er Bedeutung schaffen, denn „gute Werke deuten“, deuteten auf etwas Wesentliches hin jenseits der direkten Erkenntnis. Wie im Sinne Richard Wagners müssten Klang, Raum, Zeit und Bild in einer gelungenen Inszenierung eine Einheit bilden und eine transformatorische Ebene öffnen.

Ausgangspunkt für seine eigene künstlerische Arbeit als Regisseur war das kritische Schultheater, das er während seiner zwölf-jährigen Lehramtszeit mit seinen Schülern initiierte und sein Publikum damit in absolute Liebhaber und Feinde spaltete. Seine Staatsexamen hatte er über Richard Wagners Werk und demokratische Kooperationsformen im Schultheater geschrieben. Der erste Auftrag als freier Regisseur war 1991 die Inszenierung des 70. Geburtstags von Sir Peter Ustinov an der UNESCO in Paris, die seine fünfzehn-jährige Tätigkeit als künstlerischer Leiter des Europapark in Rust einleitete. Hinzu kamen dramaturgische Arbeiten am Staatstheater Braunschweig und eigene Theater-, Konzert- und Fernsehproduktionen. Im Europapark baute er den gesamten Entertainmentbereich mit auf, kreierte Revuen, Variété-Theatershows, große Gala-Abende und Dinnershows, entwarf unzählige Inszenierungen maßgeschneidert für spezielle oder auch wiederkehrende Anlässe. Mit einem Ensemble von bis zu 250 Künstlern (Tänzerinnen, Artisten, Akrobaten, Schauspielern, Sängern etc.) wurde er zum Schöpfer unzähliger unvergesslicher magic moments bei Publikum, Mitwirkenden und Auftraggebern aus Industrie, Wirtschaft und Politik.

Zu seinem Portofolio als Regisseur und Performance-Designer gehören unter vielen anderen Firmen wie Mercedes-Benz, Audi, Volkswagen, VEBA, DASA, Bertelsmann, Burda Medien, Anschutz Entertainment Group. Er richtete Bundeskanzlerfeste aus, eröffnete CDU-Parteitage, eröffnete unzählige Fußballstadien vor der Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 und inszeniert für den Deutschen Fußballbund seit 2009 die feierliche Eröffnung der DFB Länderspiele. Fünf Mal zeichnete er verantwortlich für die Konzeption und Regie der Eröffnungsfeier des UEFA Champions League Finales in Gelsenkirchen, Istanbul, Paris, Rom und Madrid, gestaltete die Eröffnungsfeier der Turnweltmeisterschaft in Stuttgart und die Abschlussgala des Internationalen Deutschen Turnfests 2009 mit 2500 Laienmitwirkenden im Stadion von Frankfurt. Parallel dazu entsteht über die Jahre ein imposantes großformatiges Bilderwerk als „Beschriftung eines Weltenraums“.
2012 wurde Enno-Ilka Uhde als Spezialist für Performance-Design und Inszenierung von Gesamtkunstwerken im öffentlichen Raum zum Professor an der Hochschule für Musik in Karlsruhe berufen. Neben seiner Bekanntheit für seine Großinszenierungen im Sportbereich mehren sich die Aufträge, bei denen es um die Konzeption und inszenatorische Umsetzung von gesellschaftspolitischen Aufträgen, Themen und Ereignissen geht, darunter die Neujahrsempfänge der Industrie- und Handelskammer Karlsruhe, Konzeption des 300. Jubiläum des Rastatter Friedens, Konzeption des 300. Stadtgeburtstags der Stadt Karlsruhe, öffentliche Einweihung des Bildungscampus Heilbronn, Konzeption The Squaire Open Club Frankfurt, Eröffnung des Campus One der Hochschule für Musik Karlsruhe, die Projektkonzeption der Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre Bundesliga“, die konzeptionelle Beratung und jährliche Durchführung des Internationalen Wirtschaftsforums Baden-Baden…
Seit 2004 wohnt und arbeitet Enno-Ilka Uhde in Karlsruhe, wo unter seiner künstlerischen Leitung die Firma Industrial Theater als eigene Produktionseinheit entstand. Seitdem werden alle nationalen und internationalen Auftragsarbeiten, sozusagen maßgeschneidert für den Anlass und die Kunden, von der Konzeption bis zur Umsetzung im eigenen Haus produziert.
So unterschiedlich die Aufträge und Projekte äußerlich auch sein mögen, so wenig sie vielleicht mit dem Kunstprojekt „KA300 – BACK TO BAMBI“ auf den ersten Blick zu haben scheinen, immer sind sie dem gleichen Prinzip, der gleichen Haltung im Denken und Ausführung unterworfen: Form und Inhalt müssen zusammenkommen. Die Vorgehensweise ist eine hermeneutische, ein Verstehen-wollen, warum die Dinge sind, wie sie geworden sind, weg vom Oberflächendenken und bloßen Design. Es geht insbesondere um die Verdichtung von Erkenntnis und die Übersetzung in eine verständliche, universelle Sprache, die Wahrheit trägt durch das Medium der bildenden Kunst, der Musik, des virtuellen Film. Uhde beschreibt diesen Prozess der Kreation auch als einen ganz persönlichen, nämlich die Verdichtung der Elemente in ihm selbst. Etwas dränge buchstäblich aus ihm heraus wie ein Abszess, der geöffnet werden müsse; es drücke sich nach außen, im Kleinen wie im Großen, und durchlaufe eine Verwandlung, die das Werk entstehen ließe. Unabdingbar ist für ihn das Verstehen des jeweiligen psychosozialen Klangraums. Durch die Transformation in ein Werk entsteht die Verdichtung einer Erkenntnis, ungeachtet dessen, ob es sich um ein inszeniertes oder gemaltes Bild handelt.
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„KA300 – BACK TO BAMBI“ ist ein Nachdenken über die Ontogenese einer Stadt und deren kulturgeschichtlichen, sozio-politischen Kontext über eine Zeitspanne von 300 Jahren mit dem Charakter einer Novelle. „Die langen Linien interessieren mich, gleich der Genese der bürgerlichen Gesellschaft; die Erzählstrukturen, die eingebettet sind in subatomare und bio-chemische Prozesse“, meint der Künstler. „Eines Tages entdeckte ich Cy Twombly und war völlig perplex, in seinen Werken eine ähnliche Form des Schriftbildes zu erkennen wie bei meinen eigenen Bildern.“ Von diesem Schock der Erkenntnis, dass auch sein Werk Ausdruck eines soziokulturellen Raumklangs ist, musste sich das Individuum Enno-Ilka Uhde er einmal erholen und neu sammeln. Er tut es nachhaltig und mit Nachhall, in dem er die Biografie der Stadt Karlsruhe als Ausdruck einer Zeit in 300+1 Einzelschriftbildern dokumentiert, gleichzeitig in Verbindung bringt mit der scheinbar immerwährenden Jugend des Bambis der Majolika Karlsruhe und zu einem 120-Meter-langen Gesamtwerk vereint. Seine eigene Biografie ist wie die einjeden Betrachters und Käufers fragmentarisch als Teil des Ganzen in das Werk einbettet.

Cordula Münchmeyer M.A.

 

 

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So ist „KA300 – BACK TO BAMBI“ nicht nur aus der Logik des immerwährend Skizzierenden seiner Ideen und Projekte und des schon seit jungen Jahren intensiv malenden und schreibenden Flächenbearbeitenden zu verstehen. Wer Uhde kennt, kennt auch sein überdimensional großes Projekt- und Skizzenbuch, das er immer mit sich trägt. Es philosophiert, musiziert, singt, tanzt, textet, inszeniert ununterbrochen in seinem Inneren, auch in der Traumfülle der Nacht. Er sieht sofort die Bilder bei der Andeutung eines Themas oder auch im Text, hört Raumklänge schon bei der Erstbesichtigung eines potentiellen Veranstaltungsortes, sieht wie der Raum sich vor seinem inneren Auge verwandelt und sich mit Klang füllt. Für ihn ist es eine Reise im Kopf durch Bilder, Zeiten und Klänge, die sich als Texte und Farben in Schichten und Geschichten überlappen. Da sie in Wirklichkeit das Individuum nicht interessierten, werden sie vom Künstler in der weiteren Erzählung immer wieder übermalt und unlesbar neu beschriftet bis sie den Kern ihrer Wahrheit reduziert sind, dem So-und-nicht-anders. Das Bild als Träger von Wahrheit stünde immer nur für sich selbst, egal ob es dem Betrachter gefalle oder nicht.
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„KA300 – BACK TO BAMBI“ hat alle Charakteristika eines inszenatorischen Werks von Enno-Ilka Uhde. Es ist ein Gesamtkunstwerk, genauso wie jede andere seiner Inszenierungen mit inhaltlicher Narration, eigenem Bühnen-, Klangbild-, Kostüm- und Maskenbild, visueller und physischer Umsetzung durch Musiker, Artisten, Performer und Projektion: es ist Raumklang in einer Raumzeit.